Realtalk

Lasst uns weniger urteilen

12. Oktober 2021

Liebes Tagebuch, heute hat mich eine gute Freundin gefragt, was die schwierigste Herausforderung am Schritt in die Selbstständigkeit war. Die Tatsache, dass ich darüber nicht lange nachdenken musste und die Antwort selbst haben mich sofort etwas traurig gestimmt: „An mich selbst zu glauben.“ Dieser Satz war so schnell in meinem Kopf und das, obwohl es mir vorher gar nicht so bewusst war. Schon den ganzen Tag denke ich jetzt darüber nach. Warum fiel es mir anfangs so schwer mich hinzustellen und zu sagen „Ja, ich gehe den Schritt. Ich melde ein Gewerbe an und mache das Ganze jetzt selbstständig. Und ja, ich will dass das mal was ganz Großes wird.“ Anstatt stolz zu sein habe ich es nicht mal im Freundeskreis groß erzählt. 

Ein bisschen erinnert mich das an den Beginn meiner Ausbildung damals. Ich habe mein Abitur gemacht und mich in der elften Stufe in die Idee verliebt, Floristin zu werden. Also habe ich ein Jahr vorm Abi in den Sommerferien ein Praktikum im Blumengeschäft gemacht und hatte danach einen Ausbildungsplatz dort sicher. Innerlich war ich stolz wie Bolle, aber immer wenn ich gefragt wurde, was ich denn nach dem Abi studieren würde (Ausbildung kam ja eigentlich überhaupt schon nicht in Frage) wurde ich schief angeguckt und habe mich tatsächlich geschämt. In mir ist die Wut über diese Ungerechtigkeit immer größer geworden: Wer sagt, dass eine Ausbildung nicht gut genug ist? Wer sagt, dass der Job der Floristin nichts wert ist? Wer entscheidet überhaupt darüber, was angesehen ist und was nicht? Am liebsten hätte ich mein Abi damals aus Trotz einfach geschmissen. Der Höhepunkt des Ganzen war dann der Tag, an dem eine meiner ehemaligen Lehrerinnen ein halbes Jahr nach dem Abi in meinem Lehrbetrieb war um Blumen zu kaufen. Ich war gerade bei der Pflanzenpflege und sie sprach mich von der Seite an: „Meret? Sind Sie es? Arbeiten Sie etwa hier?!“ (Was ja offensichtlich war, normalerweise gieße ich als Kunde keine Pflanzen im Geschäft). Kurze Denkpause – dann kam hinterher: „Haben Sie ihr Abitur nicht geschafft? Das habe ich ja gar nicht mitbekommen, es tut mir ja so leid für Sie!“ Im ersten Moment war ich so perplex, dass ich gar nicht wusste, wie sie darauf kam. Dann habe ich es zwar versucht zu überspielen, aber in Wahrheit hat mich der Vorfall ziemlich getroffen.

Wenn ich so darüber nachdenke, ist es also kein Wunder, dass es mir schwer fällt, dazu zu stehen und an mich zu glauben. Denn in den Augen vieler unserer Gesellschaft ist es einfach nicht angesehen, einen solchen Beruf auszuüben. Aber eigentlich weiß ich, dass ich nur nach einer Person schauen muss, nämlich nach mir selbst. Jeder sollte genau das tun, was für ihn das richtige ist. Natürlich kommen manchmal Zweifel auf, das gehört dazu. Und ich muss auch sagen, dass mein Umfeld aus Familie, Freunden und meinem Partner mich sowohl bei der Entscheidung zur Ausbildung als auch beim Schritt in die Selbstständigkeit unterstützt hat, wofür ich unglaublich dankbar bin. Doch was passiert mit denen, die solche Leute nicht hinter sich stehen haben? An die kein Anderer glaubt, wenn sie selbst mal aufgrund des gesellschaftlichen Druckes  zweifeln. Vielleicht entscheiden die sich aus dem Grunde gegen eine Lehre in ihrem Traumjob. Ohne guten Zuspruch hätte ich das damals ehrlich gesagt auch getan. Und wie traurig ist das bitte? Wir alle sollten viel weniger darüber urteilen, was richtig und was falsch ist. Denn das ist nun mal für jeden etwas Anderes. Und das wichtigste ist doch, dass wir selbst am Ende des Tages glücklich sind mit dem, was wir tun, oder? Egal, was die Gesellschaft davon hält! 

So, Wort zum Sonntag beendet. Danke fürs Zuhören & bis dahin,

deine Meret